Der erste Artikel unserer Serie über das urzeitliche Simmental geht der Frage nach, wie man die Entdeckungen überhaupt gemacht hat, die zu der Vorstellung eines eiszeitlichen und steinzeitlichen «Simmental» geführt haben.
Geschichte: Fakten, Fragen, Deutungen
Haben wir es alle nicht schon einmal erlebt, dass uns «Geschichte» zu Anfang ganz spannend begegnet? Als unsere eigene Geschichte nämlich, oder als die unserer Familie: «Wer war denn…?», oder «Warum hat …. das oder jenes gemacht?», fragen wir dann als Heranwachsende.
Denn wenn wir beispielsweise wissen, wer unsere Grosseltern sind, wann sie wo geboren wurden, wo sie lebten und mit wem sie verheiratet waren, dann können wir uns vorstellen, wer zu unserer weiteren Familie gehört. Meist haben wir das von unseren Eltern erfahren, und die wieder von ihren Eltern usw. So entsteht eine Überlieferung, mündlich, durch Weitersagen.
Geschichte entsteht, wie man sieht, aus Erinnerungsstücken, denen wir Fragen stellen. Das ist – nach langer Überlegung – eine einfache Erklärung des Wortes. Und diese Erklärung scheint auch dann noch weitgehend richtig, wenn man die Meinung sehr vieler Geschichtslehrer an Schulen und Hochschulen erfragt hat.
Solche «Erinnerungsstücke», das können Briefe, Dokumente, Fundstücke wie alte Waffen oder Siegel sein, aber auch Steine, Holzstücke oder Skelette. All diese (und noch viele weitere) nennt man oft «Quellen», und solche Quellen schaffen Tatsachen, an die wir wiederum Fragen stellen, damit wir etwas von ihnen erfahren.
Haben wir dann noch zusätzlich Quellen, wie Briefe, Geburts-Urkunden oder Stammbäume, oder vielleicht sogar Veröffentlichungen, die einer unserer Vorfahren gemacht haben, dann vertieft und konkretisiert sich unser Bild der Vergangenheit: Wir können sie ein gutes Stück weit interpretieren, wir deuten sie und sagen dann oft: «so und so und so «war» es. Obwohl wir nicht dabei waren.
Die Urzeit des Simmentales wird entdeckt
So geht es auch mit der Geschichte des Simmentales: Wir waren nicht dabei und versuchen sie dennoch zu interpretieren, wir versuchen darüber zu reden. Und oft fasziniert uns ganz besonders dann, wenn wir etwas ganz besonders Rätselhaftem begegnen.
So ging es auch vor etwa einem Jahrhundert zwei Simmentaler Brüdern. Sie suchten und forschten schon als Jugendliche, und irgendwann entdeckten sie in verschiedenen Höhlen des Simmentales Befunde, die sich ähnelten: Tausende und Abertausende von Tierknochen kamen zum Vorschein. Und einige waren riesig. Und keines der lebenden Tierarten konnte solch gewaltige Knochen haben. Aber auch menschliche Spuren – Beile und Pfeilspitzen – waren zu finden, die man vor rund 70 Jahren noch Jägern der Neusteinzeit zuordnete.
David und Albert Andrist, so hiessen die beiden Brüder fanden bald in Dr. Walter Flückiger einen Freund und zuerst zu dritt, dann später auch mit einer Vielzahl von Helfern, und in engem Kontakt mit dem naturhistorischen Museum in Bern begannen sie in den Höhlen des Simmen- und Diemtigtales richtiggehende archäologische Ausgrabungen zu organisieren.
Besonders die Jahre 1928 bis 1953 waren ihre fruchtbarste Zeit. Und aus all dem entstand 1964 ein wissenschaftliches Buch, das zu erstaunlichen Entdeckungen kam und seither Eingang in die wissenschaftliche Fachdiskussion gefunden hat: Riesenbären hatte man gefunden, Riesenhirsche und andere grosse Tiere. Knochenhaufen und seltsame Steine. Und das Eigenartigste waren Spuren von menschlichen Jägern – Pfeilspitzen und Messerspuren an den Knochen – , die allesamt aus einer Zeit zu stammen schienen, in der man unmöglich Menschen in der Region des Simmentales vermuten konnte: Aus der letzten Eiszeit und den ersten Jahrhunderten danach. Moderne Forschungen legen mittlerweile eher eine frühe, ältere Datierung nahe.
Aber konnte man darüber etwas Genaueres wissen? Und viel schwerwiegender: Würde es je einen Menschen interessieren, was die Gebrüder Andrist gefunden hatten?
Ein Büchlein, eigens für die Simmentaler Bevölkerung geschrieben
Nachdem die eigentlich wissenschaftlichen Berichte alle fertiggestellt und veröffentlicht waaren, wagte es schliesslich Albert Andrist, ein Buch zu schreiben, das für Viele – und vor allem für viele Simmentalerinnen und Simmentaler – verständlich sein sollte. Und nur mit «hektographierten», wie man damals sagte, Kopien seiner Schreibmaschinenseiten und vielen Zeichnungen und Fotos liess er ein einfach gebundenes Manuskript herstellen, das in den 60er Jahren eine Zeitlang sogar als Büchlein zu erwerben war. Im Namen aller drei Verfasser schreibt er schliesslich im Herbst 1964 in dieses einfache Büchlein eine Widmung an
«… die Bevölkerung des Simmentales und zahlreiche Freunde… Wir hoffen, mit dieser Publikation die Freude an unserer engern und weitern Heimat aufs neue zu wecken und zu verstärken».
Das Manuskript taucht auf
Lange Zeit schien das kleine Manuskript verschollen oder zumindest vergessen. Bis dem Verlag dieser Zeitung schliesslich im April 2020 einige Kopien des Briefwechsels von Albert Andrist mit dem aus ursprünglich aus Latterbach stammenden Jakob Wiedmer zugestellt wurden.
In dem aus dem Jahre 1976 stammenden Briefwechsel widmet der offensichtlich schon altersgebeugte Albert Andrist Herrn Wiedmer eine seiner Publikationen dem Simmental: Es ist ein blassgrünes Büchlein mit dem Manuskript des Textes, den er eigens «für die Simmentaler Bevölkerung» geschrieben habe, so der damalige Wortlaut.
Nun, zurück in der Gegenwart, an einem frühsommerlichen Nachmittag, am 8.5.2020, haben wir uns – themenangepasst und corona-bedingt – im Freien am Fusse der 1100 Jahre alten Wimmiser Kirche unter einer alten Linde getroffen. Der passionierte Imker Wiedmer übergab dem Verfasser das Büchlein zur journalistischen und schriftstellerischen Auswertung, verbunden mit dem treuhänderischen Auftrag, es nach Abschluss der Veröffentlichungsarbeiten dem Archiv des Erlenbacher Agensteinhauses zu übergeben. Das Büchlein bildet den Anstoss zu der vorliegenden Artikelserie und wird mit seinen Erkenntnissen in alle folgenden Beiträge einbezogen.
Geschichte der Höhlenforschung ist selbst «Geschichte» geworden
Schon während der Ausgrabungsarbeiten der Gebrüder Andrist und des Herrn Dr. Flückiger wurden – in den eigenen Worten des greisen Albert Andrist – sämtliche Funde den kantonalen Spezialisten übergeben: «Die ‘Ausbeute’ selbst, die wir bis auf das geringste Knöchelchen dem Historischen und dem Naturhistorischen Museum in Bern abgeliefert haben, wird dort aufbewahrt».
Mittlerweile sind allerdings nicht nur die «Knöchelchen» wieder zu geschichtlichen «Quellen» geworden, sondern die Briefe und Bücher der Gebrüder Andrist und ihrer Freunde selbst auch. Doch samt den neuen, heutigen wissenschaftlichen Ergebnissen über die Ur- und Frühgeschichte des Simmentales werden sie in die kommenden Artikel einfliessen. Nicht gerade Stein für Stein oder «Knöchelchen für Knöchelchen», aber so, dass am Ende ein halbwegs stimmiges Bild, ein neues Bild des urzeitlichen Simmentales entsteht. Um im Bild der Höhlen-Ausgrabungen zu bleiben: Schicht um Schicht entsteht Geschichte, immer wieder neu.
Jakob Wiedmer übergibt ein aus den 60er Jahren stammendes gebundenes Manuskript einer eigens für die Simmentaler Bevölkerung hergestellten Zusammenstellung von Höhlenforschungsergebnissen an die «Simmentalzeitung».
Das «Wildkirchli» im Ostschweizer Alpstein liegt am Ausgang eines gigantischen Höhlensystems, das noch am Ende der letzten Eiszeit Höhlenbären beherbergte. Bis der Mensch kam… Und bis heute blieb.
Faksimile aus dem Brief von Albert Andrist an Jakob Wiedmer vom 8.8.1976. Teile davon sind im Text des Artikels zitiert.