Eiszeit im Simmental

Ist es unvorstellbar? Oder können wir uns doch irgendwie hineindenken? Was sieht man in den Simmentaler Höhlen? Was kann man denn überhaupt über Zeiten wissen, die vor aller Geschichtsschreibung liegen? Und wie fühlte es sich an, damals, am Ende der Eiszeit? – Das sind die Leitfragen dieses dritten Artikels aus der Serie über die Simmentaler Höhlen.  

Und wir stellen die Funde der Simmentaler Gebrüder Andrist und ihres Kollegen Dr. Flückiger aus den jahrzehntelangen Forschungen im vergangenen Jahrhundert in ein Bild zu wichtigen Ergebnissen heutiger Forschung 

Zeitliche Einordnung erschliesst Lebensverhältnisse 

Der Schlüssel zum Verständnis dessen, was sich in den Simmentaler Höhlen in prähistorischer Zeit unter Umständen abgespielt haben könnte, ist vermutlich die Datierung: Während der letzten Eiszeit hat sich im Schnurenloch sicher etwas anderes ereignet als in den sehr viel wärmeren Jahrhunderten danach.  

Und dies ist auch das Bild, das die Funde der Gebrüder Andrist nahelegen. Sie haben Ihre Kindheit nach eigenem Bekunden «auf dem Bühl und im Weissenbach, Gemeinde Oberwil» verlebt. Und in ihrer 1964 veröffentlichten Zusammenfassung ihrer Forschungs-Ergebnisse verzeichnen sie sehr viele Einzelheiten, und Grabungsbefunde und Datierungsversuche finden wir. Insgesamt berichtet Albert Andrist von 4000 Seiten stenografischer Notizen und 16’000 Fundstücken. Versucht man nun vorsichtig, Fundstellen («Höhlen»), Fundstücke und die vermuteten Zeiten zueinander aus heutiger Sicht zu ordnen, gelangt man zu folgendem Bild: 

Eiszeit 

Die eiszeitlichen Funde unserer Region stammen im Wesentlichen aus dem Schnurenloch, dem Ranggiloch und der Chilchlihöhle und wurden grob der «Steinzeit» zugeordnet. Dabei ist «Eiszeit» ebenso wie «Steinzeit» ein sehr vager Begriff. Und was die frühesten Simmentaler Fundstücke betrifft, so vermutet man, dass damit ungefähr eine Zeit zwischen 50’000 v. Chr. – ca. 9’600 v.Chr. gemeint ist. Was diese uralten Zeiten betrifft, so haben die Brüder Andrist und ihre Freunde dabei vor allem behauene Steine und Faustkeile gefunden, die auf eine Art Jagdbetrieb in diesen prähistorischen Tagen schliessen lassen. Aber natürlich auch «Knochen und Zähne des Höhlenbären» (Andrist). 

Wenn wir diese letzten Eiszeitphasen aus heutiger Sicht betrachten, so haben sich verschiedene Kaltphasen in dieser vermutlich rund 40’000 Jahre dauernden Zeit mit kürzeren Erwärmungsphasen («Zwischeneiszeiten») abgewechselt. Dabei gingen die Klimaschwankungen, wie man heute weiss, schnell, zum Teil sehr schnell vonstatten. Dies kann in der Region des heutigen Oberlandes nur zu einem heftigen «Hin-und-Her» zwischen schnell wachsenden Riesen-Gletschern und geradezu katastrophal heftigem Abschmelzen der Eisriesen geführt haben.  

Die Täler, die wir heute so idyllisch als Simmental, Diemtigtal oder Kandertal erleben, haben in diesem Hin und Her erst ihre heutige Form erhalten, und es grenzt an ein Wunder, dass es die erwähnten Höhlen und die darin erhaltenen Zeugnisse der altsteinzeitlichen Menschen- und Tierwelt überhaupt noch gibt. Konkreter heisst das, dass in einer warmen Phase rasch abschmelzende Riesengletscher Unmassen von Geröll und tauendes Wasser freigesetzt haben, während bei der fast schlagartigen Abkühlung in der nächsten Phase die Gletscher fast rasend schnell ganze Lebensräume vernichteten. Eine unwirtliche Welt. 

Jüngste Forschungen der Universitäten Zürich und Tübingen (D) werfen nun aber ein besonderes Licht auf das Verhältnis von Mensch und Tier in dieser fast unvorstellbar wilden Zeit. So gehörte der schon in früheren Artikeln zitierte Höhlenbär (lat.: ursus spelaeus) zur sogenannten «Megafauna», also zu den Großtieren.  

Erste Exemplare dieses Bären stammen aus der Zeit vor rund 47.000 Jahren, sein Aussterben datieren die Experten nach heutigem Stand auf die Zeit vor 20.000 Jahren, also noch während der letzten Eiszeit. Der Höhlenbär tritt somit ungefähr zur selben Zeit auf wie das Mammut, das Wollnashorn, der Riesenhirsch und der Höhlenlöwe, die ebenfalls alle ausgestorben sind. Und so ist es wenig erstaunlich, dass die Gebrüder Andrist auch Knochen anderer «Riesentiere», wie etwa des Riesenhirsches» gefunden haben.  

Eine internationale Wissenschaftlergruppe mit Schweizer Beteiligung geht heute davon aus, dass es tatsächlich der steinzeitliche Mensch war, der zum Aussterben des Höhlenbären beigetragen hat. Denn Höhlenbären benötigten zwingend Laubwälder, um zu überleben, und sie waren zudem sehr ortstreu.  

Und vielleicht mag man sich für einen Moment – und nur hypothetisch vorstellen – dass sie am Beginn der letzten Eiszeitphase, ausgehungert und geschwächt, vor den noch ein letztes Mal zurückweichenden Wäldern in den immer länger werdenden Wintern in ihre angestammten Höhlen flohen – wo sie für die ebenfalls hungrigen, menschlichen Jägern eine bewältigbare Beute wurden. Eine Hypothese, sicher, aber sie könnte einen Funken Wahrheit enthalten.  

Denn die Menschen der ausgehenden Eiszeit waren keineswegs primitiv oder gar «dümmlich», wie zweifelsfrei belegte Ausgrabungen  aus der Gegend von Thayngen im Kanton Schaffhausen zeigen: Nicht genug, dass die dort – nur rund 100 km Luftlinie entfernt – am Ende der Eiszeit lebenden Menschen eine breit aufgestellte «Speisekarte hatten, zu der auch Ren, Wildpferd, Schneehase und Schneehuhn, ferner Steinbock, Gemse und Murmeltier gehörten.  

Man fand dort auch erste Schmuckgegenstände und etwas, das man nach jahrzehntelanger Diskussion über den Charakter der Fundstücke, als erste menschliche Kunstwerke identifizierte: Abstrahierte Frauengestalten, die denen ähnelten, die man – aus der selben Periode stammend – auf einer lange Linie von Südfrankreich bis zur Elbe fand. Eine erste «Kultur» etwa? 

Doch hier, am Ende der letzten Eiszeit, hören im Berner Oberland jedoch die spektakulären Spuren sowohl der Höhlenbären als auch der menschlichen Höhlenbewohner «eine Zeitlang» auf. Und es besteht wenig Klarheit darüber, was im Simmental in den ersten Jahrtausenden nach der Eiszeit, also etwa zwischen 9’600 und ca. 6’000 v. Chr. passiert sein könnte.  

Erst der Zeit nach etwa 6’000 v. Chr. konnten die Gebrüder Andrist wieder Spuren zuordnen: Im Mamilchloch etwa, in der Chilchlihöhle (der wir ganz am Ende nochmals begegnen werden) sowie in den Gemeindegebieten von Wimmis und Därstetten sowie im Diemtigtal.  

Mittel- und Neusteinzeit 

Erneut sind es andere Disziplinen als die Höhlenarchäologie, die uns die Ausgrabungen der Gebrüder Andrist ein wenig verständlicher machen. Die Riesentiere der Eiszeit waren in den offensichtlich sehr warmen Jahren der Neusteinzeit ebenso verschwunden wie die nacheiszeitlichen Rentiere und Zwergpferde, die man für die Zeit direkt nach der Eiszeit im Kanton Schaffhausen etwa gefunden hat.  

Die Landbrücke («Doggerbank») zwischen dem heutigen England und Mitteleuropa war relativ dicht besiedelt und der Meeresspiegel lag zeitweise um fast 120 m tiefer als heute. Weit im Norden Europas lagen dagegen noch unvorstellbar grosse Eismassen, während auf der Insel Sylt die ersten von rund 50 «Hünengräbern» auf einem hügeligen und fast noch zum Binnenland zählenden Landstrich, der «Geest» entstanden. Man kann einige von ihnen noch heute besichtigen, und sie ähneln «unseren» Höhlen in hohem Masse. 

Im Oberland, und überhaupt in den Alpen, soll damals die Baumgrenze – das zeigen Pollenspuren und später dann auch die uralten Flurnamen – bei fast 2400 m gelegen haben. Und wären die Höhlenbären nicht schon ausgestorben gewesen, sie hätten ihre helle Freude an den üppigen Wäldern dieser Jahrhunderte gehabt.  

Archäologen und andere Forschergruppen sind sich weitgehend einig, dass die neusteinzeitlichen Spuren in den Simmentaler Höhlen nach und nach entstanden sind: Ganz langsam scheint man das Oberland – vielleicht aus den Höhen über das vermutlich dicht bewaldete Schwarzenburgerland kommend – wieder entdeckt zu haben. Und vielleicht fürchtete man sich immer noch vor den unberechenbaren Wasserläufen in den Tälern. 

Spannende Ausblicke 

Wie die Geschichte dann vermutlich weiterging, wie sich bronzezeitliche «Wohnungen» und Unterkünfte entwickelten, wie sich erneut das Klima änderte, und wie das Simmental dann schliesslich in das eintritt, was wir heute «Geschichte» nennen, das wird der vierte und letzte Beitrag dieser Reihe zeigen.  

Ein Bild, das Berg, Rock, Natur, draußen enthält.

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Schutzraum («Abri»), Jagdunterkunft oder schon Behausung auf Dauer: Man kann es nicht für alle Höhlen mit Bestimmtheit sagen. Denn zu wenige Spuren sind aus der ausgehenden Eiszeit erhalten.  

Ein Bild, das draußen, Gras, Giraffe, weiden enthält.

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Sie sind – mit Unterbrechungen – seit der Jungsteinzeit bewohnt: Die «Fluehüsli» bei Krauthal (Emmental) 

Ein Bild, das draußen, Berg, Schnee, bedeckt enthält.

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Die Trockenheit der Oberwiler Höhlen ist ein erstaunliches Phänomen: Man erkennt diese Besonderheit an dem Vorhandensein von Spinnweben (hier im Zwergliloch) 

Die bizarren Klüfte der Felswände oberhalb Oberwil sind an vielen Stellen derart trichterförmig geformt, dass sie Geräusche konzentrieren: Sie wirken fast wie eine Ohrmuschel. Und man hört am Eingang der Höhlen jeden Ankömmling viele Hunderte Meter weit.  

Ein Bild, das draußen, Rock, felsig, Gras enthält.

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Der «Höhlenpfad» in Oberwil ist eine steinige Sache, aber er bietet eine höchst lohnenswerte Ausflugsmöglichkeit. 

Ein Bild, das Rock, draußen, sitzend, Stück enthält.

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So in etwa könnte auch eine Feuerstelle in der Jungsteinzeit ausgesehen haben: Grob behauene Steine in einer natürlichen Höhlenöffnung, mit vereinzelten Holz- und Ascheresten. Doch die Feuerstelle ist modern, das Feuer bei Erscheinen des Artikels erst eine gute Woche alt.