Wenn man in der Hauptstadt des Départements Savoie, in Chambéry (F), vor ein öffentliches Gebäude tritt, glaubt man einer optischen Täuschung zu unterliegen, wenn man das dort verwendete Wappen sieht. Und unweigerlich denkt man fast mit Empörung: «Haben die doch glatt das Schweizer Wappen geklaut!». Doch man wird nachdenklich, wenn man ein wenig recherchiert. Und man kommt zu einem anderen Ergebnis.
Das Wappen der Savoyer
Beginnen wir bei den Savoyern: Während über neun Jahrhunderten prägten sie die Geschichte Südostfrankreichs, Italiens und der Westschweiz. Und von 1861-1946 waren sie sogar italienische Könige.
Ihre Dynastie beginnt im frühen 11. Jahrhundert mit einem gewissen «Humbert Weisshand», der mit der Tochter des Aargauer Grafen von Lenzburg verheiratet war. Zudem bestand vermutlich eine enge Verbindung zu der Familie der Hochburgunder, aus der auch die aus Orbe stammende Kaiserin Adelheid und ihre Mutter, Königin Bertha, stammte.
Das so genannte «Stammwappen» der Savoyer, so nennt man dasjenige Wappen, in dem die heutige Form im Kern das erste Mal aufgetaucht ist, geht nach den Savoyer Chroniken auf eben den Stammvater Humbertus zurück und ziert auch dessen Grabstein unweit von Chambéry, in der Kirche Saint-Jean-de-Maurienne. Ursprünglich, im 11. Jahrhundert, noch als silbernes Kreuz ausgeführt, hat sich nach und nach das weisse Kreuz eingebürgert.
Und bis heute trägt das «Département Savoie», es hat mit 80% Alpenanteil den grössten Berganteil aller französischen Départements, den Kern dieses «humbertinischen» Wappens in sich, des Wappens also, das im allerersten Moment der Schweizerfahne so sehr ähnelt. Freilich werden heute vielfältige Form- und Farbabweichungen geduldet. Das Savoyer Wappen ist zum Markenzeichen der Region geworden.
Wappen der Herzöge von Savoyen aus frühbarocken dem «Scheibler’schen Wappenbuch», heute in einer Münchner Sammlung.
Die Schweizerfahne und ihr Wappen
Doch die Geschichte der Schweizerfahne und des Schweizer Wappens ist ganz andere Wege gegangen. In der alten Eidgenossenschaft, die sich nach 1291 zu formieren begann, hatte zunächst jeder Kanton sein eigenes Wappen. Wenn die Eidgenossen dann aber gemeinsam in den Krieg zogen, hefteten sie sich zusätzlich zu ihren kantonalen Wappen ein weisses Kreuz aus Leinenstreifen auf ihre Kleidung, und manchmal fand sich das auf rotem Grund. Die Berner scheinen die ersten gewesen zu sein, die dieses Wappen konsequent eingesetzt hatten.
In der «Spiezer Chronik» von 1485 des Diebold Schilling (siehe Bild) findet sich dann auch eine Abbildung der Schlacht von Laupen im Jahr 1339. Beide Heere sind dort zu sehen: Das der Berner und ihrer Innerschweizer Verbündeten, die das spätere Schweizerkreuz nur auf der Brust einiger Kämpfer tragen, und in der Mitte das Wappen der Savoyer auf einer Fahne.
Man muss das richtig deuten: Das Mittelalter hat symbolisch kommuniziert, und die Abbildung soll den Leser «lehren», dass das eine eben die Berner und die Eidgenossen sind und die «Anderen», das waren die Savoyer. Diese Abbildung gibt also nicht die Verhältnisse der Schlacht im modernen Sinne «korrekt» wieder, sondern sie zeigt die Wahrnehmung der Schlacht zur Zeit der Abfassung der in Berner Auftrag erstellten Chronik.
Die Schlacht bei Laupen: Einige der Berner Verbündeten (links) tragen ein rotes Wappen mit weissem Kreuz auf der Brust. Die auffällige Fahne in der Bildmitte ist die des gegnerischen Savoyen.
In den folgenden Jahrhunderten hat sich die spätere Schweizerfahne dann erst nach und nach entwickelt. Heute ist sie bekanntermassen im Gegensatz zu den meisten anderen Nationalflaggen quadratisch. Und sowohl Schweizerkreuz, Schweizerwappen und Schweizerfahne sind in allen Details durch Bundesgesetze (im Kern durch das «Wappenschutzgesetz»; WSchG vom 21.6.2013) verbindlich geregelt: Es ist das bekannte weisse Kreuz auf rotem Grund, dessen vier gleiche Arme «einen Sechstel länger als breit sind».
«Wer hat’s erfunden»?
Die Antwort: Jeder Staat hat sein eigenes Wappen erfunden, jeweils aus den Gebräuchen seiner Zeit heraus. Das der seit 1860 zu Frankreich gehörenden Savoyer entstand früher, das der Eidgenossen später und in vielen einzelnen Schritten bis heute. Von «Kopieren» kann daher wohl wechselweisse kaum eine Rede sein.
Hinweis: Der Artikel erschien leicht verändert am 30.7.2021 im „Frutigländer“.