Gletscher-Vorfelder und Schwemmebenen im Gasterntal (BE)
Die Alpengletscher ziehen sich enorm schnell zurück. Das gilt auch für den Kanderfirn im Gasterntal: Vor gut 10 Jahren noch an der oberen Talkante sichtbar, hat er sich in kurzer Zeit weit zurückgezogen. Dabei wurden Fels- und Steinlandschaften freigelegt, die ein grosse Möglichkeiten für neue Entwicklungen in sich tragen. Es entsteht mit grosser Dynamik eine neue Wildnis, ein so genanntes Gletscher-Vorfeld, mit einer Vielfalt von neuen Lebensräumen und Potential für Biodiversität.
Die «Wildnis der Berge» schätzen lernen
Diesem Thema hat sich der Verein «Mountain Wilderness» verschrieben, der am 14. August eine vom Kanton begleitete Exkursion ins obere Gasterntal, in das Gletscher-Vorfeld des sich zurückziehenden Kanderfirns veranstaltete. Ziel war es, diese «neue Wildnis» überhaupt erst einmal wahrzunehmen und sie vertieft verstehen und schätzen zu lernen.
Die Geografin und Botanikerin Mary Leibundgut führte eine über 30 Personen umfassende Gruppe von Fachleuten und Interessierten hinauf zur Seitenmoräne unter dem Kanderfirn. In einer Serie kleiner Vorträge vor Ort wurden sowohl die sich ständig verändernden Bodenformationen (Fels, Geschiebe, Schwemmland, Moränen, Murgang-Reste) körperlich erlebbar gemacht (Wandern, Anfassen, Untersuchen) als auch die sich darin fast atemberaubend schnell bildende Vegetation fachkundig erschlossen.

Die Geografin und Botanikerin Mary Leibundgut erschloss in einer Serie von Vorträgen vor Ort das Gletschervorfeld des Kanderfirns.
Die seit den 90er Jahren bestehende Initiative «Mountain Wilderness» befürchtet, dass solche einzigartigen Landschaften und Biotope immer mehr aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwinden oder durch Nutzungsinteressen gefährdet sind. Allein schon deren Schutz als einzigartiges Naturdenkmal der Schweiz scheint vor grosse Schwierigkeiten gestellt, ein Eindruck, den viele der international angereisten Experten in der vielsprachigen Diskussion auf dem Weg und beim abendlichen Feuer eindrücklich bestätigten. Selbst eine in Frankreich lebende chinesische Biologin war eigens angereist und beteiligte sich mit grossem Sachverstand an den Diskussionen.
Pflanzen als Pioniere
Ein charakteristisches Beispiel aus dem Bereich der für die höheren, steinigen Gebirgsregionen typischen Pflanzen ist die «Deutsche Tamariske» («Myricaria germanica»), ein kleiner Strauch, der aber bis fast 2 Meter gross werden kann. Sie ist eine charakteristische Begleitpflanze dynamischer Uferstandorte alpiner Fließgewässer. In Mitteleuropa ist sie die einzige Vertreterin ihrer Art, kommt aber auch in asiatischen Gebirgen bis hin nach Afghanistan vor.

Die Tamariske (hier: «Myricaria germanica») gehört zu den Pionier-Pflanzen des auch im Gasterntal neu entstehenden Gletscher-Vorfelds.
In der Schweiz ist die Pflanze gefährdet, selten und kommt nur noch entlang von Bächen und Flüssen vor, die eine ungestörte Dynamik aufweisen. Die Tamariske verbreitet sich sehr schnell durch Samenflug und festigt den durch sie besiedelten Boden mit grosser Geschwindigkeit, da sie sehr tief wurzelt. Neben einigen andern, bekannteren Arten (Weiden, Erlen und viele eher kleinwüchsige Blütenpflanzen und Gräsern) gehört die Tamariske zu den Pionierpflanzen in den Schwemmebenen der Gletscher-Vorfelder.
Die Gasterntaler Bäuert
Der abschliessend über die Geschichte und aktuelle Situation des Gasterntals referierende Bäuertpräsident Hansueli Rauber konnte zwar die Sorgen über eine eventuelle Zerstörung des Tales – etwa durch grossangelegte Energieprojekte – weitgehend zerstreuen.

Aber auch er berichtete von früheren «Ideen» aus den 1950er Jahren, im Gasterntal Stauseen und Kraftwerke zu errichten. Versuche, die glücklicherweise scheiterten, da dadurch sonst nicht nur die jahrhundertealte Tradition der Talbewirtschaftung, sondern auch ein vermutlich in der ganzen Schweiz einmaliges Gebiet dabei unwiederbringlich zerstört worden wäre.
Website von Mountain Wilderness: https://mountainwilderness.ch
Die Website des Gasterntals: www.gasterntal.ch
Impressionen einer Exkursion
Fotos: Mario Hari