Im Zuge der Social-Media-Welle der letzten beiden Jahrzehnte sind die Bereiche des privaten und des öffentlichen Lebens in einer Weise verschmolzen, wie es – so scheint es – letztmals vor allem in den antiken Stadtstaaten der altgriechischen und römischen Sphäre denkbar war. Heute kommen allerdings völlig neue mediale Dimensionen hinzu, ohne Zweifel, und sie lassen bisherige Kategorien verschwimmen.
«Intim – Privat – Öffentlich» – die sich ursprünglich aufeinander beziehenden alten Begriffe scheinen daher heute unscharf, bisweilen vage geworden zu sein. Zusätzlich werden sie überlagert von oft undeutlich wahrgenommenen, modernen Begriffsfeldern wie «persönlich» und «Persönlichkeit», «vertraulich» und «Bekanntschaft» « oder von vagen Wahrnehmungen wie «von allgemeinem Interesse» oder «Person des öffentlichen Lebens».
Können wir durch eine «holzschnittartige» Rückbesinnung auf die Urspränge der antiken Begriffe eventuell unsere moderne Begrifflichkeit neu schärfen? Könnten wir vielleicht in manchen Fällen klarer machen, was wir meinen? – Ein Versuch scheint es wert.
Ausgangslage
Auch ohne «Social Media», nein, ursprünglich viel unmittelbarer als in den heute gängigen Medienkanälen, konnte man zu antiken Zeiten, in den griechischen und römischen Stadtstaaten, erfahren, dass privater Zank, ja sogar Intimitäten, wortwörtlich «auf den Platz» gezerrt und damit «öffentlich» wurde.
Und wer auf den mittelalterlichen Plätzen unseres Kontinents oder auf einer «piazza del popolo» in antiken italienischen Städten verkehrt, weiss, dass dort kaum eine Träne, kaum ein Freudenschrei, wirklich «privat» bleiben kann. Und sehr schnell, und oft zum Missfallen der Beteiligten, wird vielleicht sogar aus einem intimen Detail eine öffentliche Sache. Auch heute noch.
Res Populi und Res Publica
Und war man in der Antike eine Person von öffentlichem Interesse, dann wurde aus einem privaten Ereignis sehr schnell eine «res populi», eine Sache des Volkes, die in der «res publica», dem Staat, durchaus grosse Wellen schlagen konnte.
Der Anwalt und Politiker Cicero, der im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung lebte, ging bekanntermassen weiter und brachte den «Volkswillen» mit der «Republik» in eine konstitutive Verbindung: Die Sache des Volkes («res populi») sei Sache des Staates («res publica»), was aber dazu beitrug, dass er selbst zu Lebzeiten den Tod erntete (durch einen Dolch, vermutlich in seinem eigenen Garten, also sehr privat) und posthum eine Menge falsch verstandenen, idealisierten Ruhm. Cicero war also einer der öffentlich redete und privat starb. Der nochmals berühmtere Caesar schien dagegen nahezu alles öffentlich zu machen, auch das Sterben. Können wir diese Sphären überhaupt abgrenzen?
Und die Person?
Doch noch redete man damals nicht oft in unserem Sinne von «Person». «Persona» war damals viel eher das- oder derjenige, was durch die Maske in einem römischen Theaterspiel «hindurchtönte» (Lateinisch «quid personat»), das Hindurch-Ahnen des Menschen und seiner Rolle hinter der «Erscheinung» ist damit gemeint.
Auch «Person» kann heute noch von der Dichotomie von «Rolle» und dem «eigentlichen Menschen» geprägt sein, auch wenn wir noch so viel von «authentisch» reden, «ich selbst» zu sein, das ist – vorsichtig gesagt – nicht ganz einfach. Ein uns Heutige bewegende Frage könnte also sein: Wer ist der Mensch selbst («authentisch»), der in den verschiedenen Bereichen des Privaten und des Öffentlichen als «sie oder er selbst» erscheint.
Zurück zu den Anfängen
Kehrt man, um mehr Klarheit zu gewinnen, zur Betrachtung des anfänglichen Dreier-Begriffs («Intim-Privat-Öffentlich») zurück, zu den Anfängen dieser Unterscheidung in der römischen Welt, so liegt es nahe, im «Innersten», im «Intimen».
Intim
«Intimus» ist der Superlativ, die äusserste Steigerung, von «innen» (lat.: «intus»). Noch heute reden wir – neben dem fast unerträglich omnipräsenten «Intimleben» einer nicht definierten Masse, die uns eigentlich nicht so angeht, als dass wir davon etwas wissen müssten – von «intimer Kenntnis» oder «intimer Freundschaft». Das war auch zu römischen Zeiten kaum anders, vielleicht ein klein wenig prononcierter, weil man dem Wort noch ganz unmittelbar seinen begrifflichen Gehalt abspürte.
Intimität ist aber ein eher moderner Begriff (vermutlich aus dem 19. Jahrhundert). Der Sache nach jedoch konnten auch in der römischen Welt Freundschaften «intim» (also sehr nahe und vertraut) sein, es konnte eine Kenntnis «intim» sein, und natürlich ein sexuelles oder romantisches Verhältnis. Aber immer war eine Kombination aus hoher Detailkenntnis, grösster Nähe gepaart mit maximal möglichem Vertrauen gemeint. Dieses «Intim-Sein» konnte jedoch auch immer durch Indiskretion verletzt werden, was letztlich bedeutet, dass man nicht unterscheiden kann, was in welche Sphäre gehört.
«Intim» ist dabei weit mehr als «privat». Intim ist «äusserst exklusiv», wenn das semantisch denn möglich ist. Und man muss es gezielt, durch den bewussten Akt der Diskretion, vor dem Hinausgezerrt-Werden bewahren. Intimität ist der äusserst denkbare Schutzraum.
Privat
«Privat» hat die meisten dieser Attribute von «intim» nicht wirklich. «Privat» ist lediglich «nicht öffentlich», wörtlich «beraubt», also der Öffentlichkeit beraubt. Aber das ist noch lange nicht «intim».
Dass die «private Wirtschaft», oder besser vielleicht «der private Haushalt» in der Antike und frühen Mittelalter der griechischen Völker «Ökonomie» hiess (von alt-gr.: «oikonomia», also «Haushaltsführung») überrascht vielleicht mehr als das römische «familia», was zwar im Grunde fast dasselbe bedeutet, aber doch vielmehr die personale Führung und Abhängigkeit im römischen Patriarchat betonte.
Diese ökonomische Einheit der römischen «Familie», die «Haushalt» im weitesten Sinne ist, hat – sehr vereinfacht – eine Innenseite und eine Aussenseite. Und das könnte uns zu deren Verständnis helfen und auch unsere heutige Beobachtungsgabe schärfen.
Rechtlich gehorchte die «familia» in der uns stark prägenden römischen Tradition – wieder vereinfacht gesagt – einem tradierten Codex, dem «fas», was man mit «das von den Göttern Erlaubte» übersetzen könnte. Es ist dies eine Art «heilig-moralischen» Recht, welches das definierte, was den Staat samt seiner zu ihm gehörenden Religion zusammenhielt. Das Recht der römischen Familie gehörte in einem weiten Bereich auch in denjenigen Bereich, den wir heute vielleicht als «Religiöses Recht» bezeichnen würden.
Und unsere «Fest-Tage» und vor allem die «Fasten-Tage» sind nach dieser Tradition (und nach dem Wort «fas») benannt, die in der Antike Gerichts- und Fest-Zeiten sowie den Kalender ebenso regelte wie die priesterlichen Ordnungen oder den «staatlichen Wahrsage-Dienst», die Auspizien.
Je mehr sich die «familia» aber nach draussen wandte, zum Beispiel wenn der «pater familias» sich an einer «Gesellschaft» oder an einem Mietshaus in einer der römischen Metropolen beteiligte, umso mehr wurde diese «Aussenseite» der «Familia» im römischen Recht von dem «ius» geprägt, das wir heute noch oft verwenden.
Dieser Rechtsteil musste «vernünftig» sein, man musste ihn auch argumentativ erschliessen können, reine Traditionsgebundenheit genügte hier nicht, obwohl sie sehr wichtig sein konnte. Und man ging in der Spätantike so weit, dass man in den entlegenen Provinzen des römischen Reiches auch das Recht der anderen Völker (lat.: «ius gentium») in dem Masse anerkannte, als es «vernünftig» oder «verhältnismässig» war. Hier dominierte das bis heute hochrelevante Rationalitätsprinzip.
Dies alles ist ein grobes, holzschnittartiges Bild. Aber es zeigt eines: «Privat» war nicht «Intim», sondern man teilte es mit dem gesamten Hausstand, der unter Umständen sehr gross war. Ein besonderes Vertrauensverhältnis musste dabei nicht gegeben sein, eher konnte man von einem Zugehörigkeits- oder gar einem Abhängigkeitsverhältnis sprechen. Nur war man in diesem «Klein-Kosmos» eben «der Öffentlichkeit beraubt», also privat. Und diese Definition hatte in der Tat für uns Heutige in mancherlei Hinsicht einen negativen Beigeschmack.
Erst dann, wenn man ausserhalb des Haushalts, auf den Plätzen, in der Politik, der Ausbildung oder der Armee, in die Öffentlichkeit trat, dann wurde alles, aber auch wirklich alles öffentlich. Wie am Beispiel Caesars gesehen, sogar das Sterben. Und das schien – welch bitterer Anklang an heutige Zeiten – in gewisser Weise sogar erstrebenswert.
Öffentlich
Wo stehen wir heute, und von wo aus sind unsere Zivilisationen einmal ausgegangen, als sie an «Öffentlichkeit» dachten?
Es war Hannah Arendt, die schon vor Jahrzehnten formulierte, dass – nach altgriechischem Ideal – die Teilnahme an der Öffentlichkeit der Polis (lat. «civitas») auf der Agora (lat.: «forum») dem freien Bürger vorbehalten sei, der die Lebensnotwendigkeiten des privaten Haushalts (alt-gr.: «oikos») überwunden hat und in die freie Sphäre der Öffentlichkeit übergehen kann.
Danach ist ein arbeitender Mensch nicht frei, da er noch mit Lebensnotwendigkeiten beschäftigt ist, welche ihn der Freiheit berauben («privat»). Freiheit wird hier also nicht als Freiheit des Handelns verstanden, sondern als ein Hinter-Sich-Lassen der privaten Angelegenheiten. – Unser heutiger Freiheitsbegriff kollidiert damit ganz offensichtlich.
Dies erinnert an den römischen Begriff der «Muse» (lat.: «otium»), den Kaiser Neros Lehrer Seneca innerhalb seiner Tradition exzellent ausgelegt hat. Danach kann man Politik – in Kürze interpretiert – nur «in otio», also in Muse betreiben, ansonsten müsse man «arbeiten», was eben «ohne Muse», also «neg-otium» sei. Das Englische «to negotiate» reflektiert dies noch unmittelbar. – Dass sich heute die Werteskala geradezu umgekehrt hat, ist hier erneut offensichtlich.
Die antike Öffentlichkeit war, in aller holzschnittartigen Kürze, also von einer kleinen Oberschicht bestimmt, die «frei» waren von Arbeit, gebildet genug um Lesen und Schreiben zu können, und die aufgrund ihrer «Hausmacht» (ein mittelalterlicher Begriff, der aber einiges zum Verständnis beitragen kann) die Geschicke der «civitas» zusammen mit anderen beeinflussen können. – Hier zeigt sich, dass wir heute völlig anders denken.
Noch die erste Urkunde im deutschsprachigen Raum, die im 4. Jahrhundert den Juden zu Köln die Möglichkeit eröffnete am «consilium», also im Rat der Stadt tätig werden zu können, reflektiert diesen Zusammenhang von «Ich kann es bezahlen» und «Ich verstehe etwas von diesem Geschäft». Heute würden wir – ganz allgemein – Korruption, Anmassung und «Vetterleswirtschaft» vermuten, aber das war in der Spätantike zur Zeit Constantins des Grossen (den Herausgeber dieses Kölner Edikts) ganz anders.
In diesem Licht sind heutige Social Media geradezu die Umkehrung der damaligen Verhältnisse, und von einer «Demokratisierung» des öffentlichen Diskurses kann man schon deshalb nicht sprechen, weil «demos» (gr.: Volk) etwas anderes bedeutete als heute. Die Hoffnung bleibt, dass wir dennoch ein wenig mehr Perspektiven gewinnen, während wir darüber nachdenken.
Und wir dürfen zu Recht immer wieder die Frage stellen: Worüber reden wir eigentlich, wenn wir «privat» sagen, oder «intim» oder «öffentlich»? Dies wird noch deutlicher, wenn wir über einen unserer gesellschaftlichen Kernbegriffe nachdenken, den der Person.
Person und Persönlichkeit
Die Herkunft des Wortes Person ist nicht vollständig geklärt, verschiedene Theorien vertreten dazu unterschiedliche Thesen. Eine haben wir bereits zitiert: «Quid personat» ist das, was unter der Maske eines antiken Theaterspiel «hervortönt».
Das Wort «Person» stammt in letzter Konsequenz vermutlich aus dem altgriechischen Wort für das „was man sehen kann“, also Gesicht, Antlitz oder sichtbare Gestalt des Menschen (alt-gr.: πρόσωπον), wo die Einheit des Bewusstseins, des Denkens, Wollens und Handelns ihren Ausdruck findet, wie ein bekanntes Lexikon recht treffend sagt. Eine andere, die etruskische Variante, geht auf die Unterweltsgestalt «Phersu» zurück, die bei Leichenspielen auftrat und sich in einer für sie typischen Verkleidung zu erkennen gab.
Kurzgefasst, erfordert – und das darf uns zu denken geben – das Erfassen und Erkennen einer Person immer einen interpretatorischen Akt: Wer ist hinter dieser Maske? So könnte man es vereinfacht sagen.
«Persönlichkeit» ist die gesteigerte Verdichtung dieses Interpretationsaktes im Hinblick auf einen – unterstellten – Reifegrad. «Persönlichkeit» bezeichnet meist einen lebenserfahrenen, reifen Menschen mit ausgeprägten Charaktereigenschaften. Wie auch immer wir das dann im Einzelnen bewerten, wir sind ja nur deskriptiv unterwegs
Schon ein wenig «latinisiert», können wir eine «conclusio», eine Schlussfolgerung ziehen: Person und Persönlichkeit zeigen sich in allen «Sphären» (gr.: «Kugeln»), oder wie wir heute zurecht sagen, in allen «bubbles», in denen wir uns bewegen: Im Intimen, im Privaten und im Öffentlich-Geschäftigen.
Dazu kommt aber eine wenig bedachte Verkomplizierung: Wir bewegen uns ja auch in verschiedenen Beziehungsräumen auf unterschiedliche Weise. Natur kennt praktisch keine Intimität, wohl aber Geheimnisse. Geschäftsleben kennt Privatheit, aber eben auch einen von der Art des Geschäfts abhängigen Grad an Öffentlichkeit usw.
Doch erfüllt eine Person, wenig verwunderlich, in diesen Sphären je unterschiedlich Rollen und Erwartungen. Perfekte Beispiele sind die in der Corona-Zeit im Internet übertragenen Homeoffice-Sitzungen, in denen «spontan» (unkontrolliert) die Katze über das Papier lief oder ein «wildgewordener Teenager» ungeplantes Chaos anzettelte.
Die heute viel zitierte «Positionierung» in den Social Media berücksichtigt diese Tiefenunterscheidung meist nicht in angemessener Weise, aber – ausreichend Fleiss (lat.: «industria») vorausgesetzt – wäre das durchaus möglich. Folgt man – «weil wir gerade schon dabei sind» – der ebenfalls antiken Grammatik, so wird man zwischen der Semantik, der Syntax und der Semiotik dieser Positionierung unterscheiden müssen, nein dürfen, denn durch diese Denkarbeit schafft man im Laufe der Zeit mehr Klarheit. Und das ist wieder ein – antikes, wie hätte es anders sein können – Ideal der Rhetorik.