Kann man die Zeit begrüssen? Geht das? Ist sie mehr als nur die formale Bestimmung «über das Vorher und Nachher» (Th. v. Aquin)? Macht Neujahr Sinn? Und was ist mit Geburtstag und Jubiläen?
Die Turmbläser in Wimmis im Berner Oberland folgten auch dieses Jahr der Sitte, das neue Jahr mit Fanfaren und Begrüssungs-Märschen zu begrüssen. Jahrhundertealt ist diese Sitte, und vor allem wurden die Gäste – zum Beispiel die Berner Regierung, vor Napoleon – so begrüsst: Am Ortsrand wartete man in Uniformen und mit hohen Gemeindevertretern auf die bereits angekündigte Delegation. Einer Abordnung, die man doch – von dem hochherrschaftlichen Schloss im Hintergrund aus – jahraus, jahrein vertreten durfte. Eine Autonomie, die der davor herrschenden Adelsherrschaft noch das Element einer gewissen Fremdheit hinzufügte. Innerlich (das waren «Städter») und äusserlich (die Reise nach Wimmis dauerte zu Fuss rund zwei Tage). Der Stadt-Land-Konflikt ist uralt und sicher nichts Neues.
Doch zurück: Kann man die Zeit begrüssen? – «Didst thou bring good tidings from the king!», dichtete einst Shakespeare in «Richard II.». «Bringst Du gute Neuigkeiten vom König?». Neuigkeiten, die Zeit bringt immer «Neuigkeiten», sie «zeitigt Ereignisse, Menschen und Dinge.
Unausweichlich und unabweisbar bringt sie zum Vorschein beides, was wir sehen wollen und begehren, und was wir nicht sehen wollen und verabscheuen. Leben und Tod.
Doch wir begrüssen das Jahr, überall auf der Welt.
Hier, in Wimmis, unter dem fast 2400m hohen Niesen und der nachweislich längsten Treppe der Welt, haben die Fanfaren und Bläser eine grosse und lange Tradition: Neben ihrer gottesdienstlichen Funktion – es gab bis 1806 keine Orgel in der Wimmiser St. Martinskirche – dienten die Bläser oft politischen oder militärischen Zwecken. Sie dienten sowohl der Begrüssung als auch der Kampfansage.
Doch die Zeiten ändern sich. In den letzten Jahren haben die Corona-Pandemie ebenso wie veränderte Hörgewohnheiten des Publikums sowohl Repertoire wie die allgemeine Aufmerksamkeit für den Anlass verändert: In grösserer räumlicher Entfernung zu der Kirche spielen heute die Turmbläser von der Terrasse des Schlosses, in dem sich die Oberländische Forstverwaltung befindet.
Weit drunten, im idyllischen Ort, öffnen sich dann um Mitternacht viele Fenster, und die in der warmen Stube sitzen lauschen dem Geläut und den Bläsern, und denken und reden und erheben das Glas – auf ein gutes neues Jahr.
Doch geht uns da nicht ein wenig der Fokus verloren? Oder ist es «der Zeit» egal, ob wir sie begrüssen oder halt nicht?
Die Menge der guten Vorsätze, die Intensität des Pläne-Schmiedens, wirft jedoch ein ganz anderes Licht auf die «Temperatur der Esse in unserer Erwartungs-Schmiede»: Das Begrüssen, so mein Verdacht, verändert uns, im Innern: Es schafft und begünstigt eine positive Erwartung, ein Sammeln der Kräfte unseres ganzen Seins, und es spannt unsere Existenz hin, auf das, was kommt.
Glaube und Erwartung schaffen Hoffnung, und Hoffnung gibt Kraft. Kraft, die wir «inbetween dawn and sadness», «between dream and nightmare», «tra sogno ed incubo», zwischen Morgenröte und tristem Untergang, zwischen Traum und Alptraum, dringend benötigen.
Es war auf dem Boden der über 1000 Jahren alten Kirche vor dem Wimmiser Schloss eine erhebende Nacht.